Kein Beifall, kein Gelächter, stattdessen Totenstille, hohe Aufmerksamkeit und Gedankenschwere. Fassungslos hört man, wie Marcel Schönfeld, brutal naiv dargestellt und gelesen von Fabian Buchmeier, das „Bordsteinkicken“ schildert.
Bückeburg (r). Im sauber choreografierten Schattenspiel des Verhörs geht es nicht um Schießbudenfiguren, um Comedy und Knabenträume, hier geht es um bestialische Brutalität. Die Mütter auf beiden Seiten vor der Bühne wissen am besten, dass Täter wie Opfer in kindlicher Unschuld ihr verlorenes Leben begannen (von großer Glaubwürdigkeit in Trauer und Empörung: Kim Rieger; um Erklärungen ringend: Mördermutter Minou Hahne). Als Schulpastor Lutz Gräber in der Rolle eines Provinzpfarrers im Halbrund der Trauerfeier Worte der Verdammung spricht, scheint fast vergessen: Verbannung der „Kreaturen des Todes“ könnte dem Hass auf „Sprache, Liebe und Leben“ neue Nahrung geben.
Andreas Viels Theaterstück „Der Kick“ basiert auf realen Ereignissen. Der 16-jährige Marinus Schöberl, der durch eine leichte Sprachbehinderung und angefärbte Haare auffiel, wurde 2002 von drei jungen Männern aus seinem eigenen Umfeld gedemütigt, gequält, misshandelt und schließlich getötet. Die offene Anlage durch die Regie (Silvio Seidt und Steffen Knippertz) macht es möglich, die Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, Zufälle, Entscheidungen und Bedingungen zu unterscheiden und Fragen zu entwickeln, statt fatalistisch oder selbstgefällig auf Züge inhumanen Niedergangs in der ehemaligen Vorzeigejugend im Osten der Republik im „Jahrzehnt nach der Einheit“ zu schauen.
Wer wollte widersprechen, wenn die Forderung erklingt, auch mit Menschen wie dem besonders problematischen rechtsorientierten Haupttäter M. früher zu reden. Aber worüber eigentlich und wie? Spät, aber kraftvoll kam Patrick Merz als muskelbepackter Marco aus der Reserve, anrührend und rollensicher bekannte sich Marie Harriehausen als Angela Becker zu dieser in Strafhaft endgültig blind gewordenen Liebe. Eine Welt trennt die Täter und ihr Umfeld von jenem Staatsanwalt, der von Alina Disch als über Zweifel und Selbstzweifel erhabene Figur gespielt wurde, und dieser Gutachterin mit ihren Textbausteintexten (unberührt, ungerührt: Anne Ewen). Für die kleine Welt der Wendehälse zwischen Beschränktheit und Bauernschläue steht Torsten Muchow (typischer: Melanie Rüthemann), mitten im Unglück redselig zu Hause: Moritz Olms als Achim Fiebranz, auch er bei König Alkohol eher ein ganz armer Höfling in Bierlaune.
Die größte Wucht bekam das dokumentarische Stück, als es Charlotta Kratochvil als Matthias Muchow gelang, lange Textpassagen des jungen Kerls so leidenschaftlich und lautstark auszuspielen, als sei kein Wort „nur“ gelernt, sondern jedes Wort gefühlt, jeder Laut gelebt.
Schulleiter Michael Pavel nutzte nach der mit verdientem Beifall bedachten Aufführung der Schüler aus dem 10. Jahrgang, zu deren Gelingen ein Dutzend weiterer Akteure wie Ann-Kathrin Lipka als Stimme des Dorfes, Souffleuse Marie Schultheiß und die unermüdlichen Pfeiffer-Techniker um Nils Schach beitrugen, in einem kleinen Nachwort die Atmosphäre von Gewalteskalation, Schock und Gewissensnot: Die Kategorie der Individualschuld scheine problematisch bei so viel Versagen so vieler. Allerdings bleibt die gesichtslose Kollektivschuld („der Gesellschaft“) eine ganz schwache Alternative, das weiß man besonders an einer „Schule ohne Rassismus“, die noch jeden in der Masse doch individuell in die Pflicht zu aufgeklärter Humanität nimmt – ganz im Geiste des Grundgesetzes. Also wirklich keine Rachefantasien gegenüber Tätertypen wie Marco und Mittätertypen wie Marcel, jenen verlorenen Söhnen der Zugewinngemeinschaft Deutschland?