Der schwierige Ausstieg rechtsextremer Straftäter
Es ist nicht leicht, aus der rechtsextremen Szene auszusteigen. (DRadio – A. Reuning)
Aussteiger aus der rechtsextremistischen Szene werden von deren Anhängern als Feinde verfolgt. In Gefängnissen wird dafür gesorgt, dass abtrünnige Kameraden auf Linie bleiben. Dennoch gibt es bewährte Projekte, die Aussteiger erfolgreich unterstützen – ihnen fehlt es aber an finanzieller Förderung.
Von Dorothea Jung
Ein Jugendgefängnis irgendwo im Osten Deutschlands: Im Versammlungssaal der Strafanstalt treffen sich sieben junge Gefangene mit zwei Sozialarbeitern zum sogenannten Antigewalttraining, einem pädagogischen Projekt des Vereins „Violence Prevention Network“. Ein Thema an diesem Nachmittag: die Konfrontation mit der Tat.
„Meine Freundin hatte mit mir Schluss gemacht, bin ich Bier holen gegangen, hat mich ein Kumpel angerufen. Dann sind wir rausgegangen, haben irgendwas geredet – dass Frauen immer bloß die Gleichen sind und fremd gehen, bla, bla, bla und so weiter. Nebenbei Musik gehört, frauenfeindliche Musik. Na ja, und dann kam uns halt jemand blöde, bin ich aufgestanden und habe dem halt eine verpasst. Mein Kumpel hat seinen Baseballschläger ausgepackt. Ja, und dann haben wir halt weiter darauf eingetreten auf den. Dann kamen halt zwei andere, dann habe ich meinen Totenschläger ausgepackt und habe dem dann eine verpasst.“
Dieser junge Mann – wir nennen ihn Reinhard und haben auch die Namen der übrigen Gefangenen geändert – dieser junge Mann ist Anfang 20. Er sitzt wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis, begangen mithilfe seines Kumpels, einer halben Flasche Wodka, mehrerer Flaschen Bier und ganz viel Wut.
Steffen Knippertz: „Warum noch auf ihn eingetreten, warum? Der liegt jetzt am Boden.“
Reinhard: „Weil ich halt nicht als Verlierer dastehen wollte. Ich habe mich wie ein Verlierer gefühlt am Anfang. Und dann habe ich mich als Gewinner mitgezählt.“
Steffen Knippertz: „Das war der Triumph, noch einmal auf jemanden, der auf dem Boden liegt, eintreten?“
Reinhard: „Ja.“
Anfangs berichtet der Gefangene von der Prügelei nur in sehr allgemeinen Formulierungen. Doch Sozialarbeiter Steffen Knippertz fragt präzise nach. Dadurch lenkt er Reinhards Konzentration immer genauer auf seine Tat. Und so offenbart der junge Mann Stück für Stück, welche Gefühle ihn bei seiner Tat geleitet haben. Das sei ein wichtiger Schritt, bekennt Reinhards Mitgefangener Dieter:
„Mir haben hier alle gesagt, dass ich ein Gewaltproblem habe. Ich habe das nie selber so gesehen, habe zwar einen Haufen Körperverletzungen mit dabei zu meinen Straftaten, da waren eigentlich immer die anderen oder die Situation daran schuld. Und nach paar Sitzungen habe ich dann schon gemerkt, dass es doch ein schönes Stück an mir halt liegt.“
Jeder, der in diesem Gefängnissaal sitzt, hat ein Gewaltproblem. Und jeder will es los sein.
„Dass mal einfach eine andere Möglichkeit gesagt wurde, wie ich aus der Situation rauskomme, ohne dass ich jetzt zuschlagen muss, dass ich trotzdem noch meinen Mann steh.“
„Das ist eine Flucht, so aus dieser Diskussion raus, den Streit rauszukommen. Mit Schlägerei wird ja alles viel schneller geklärt. Und das halt anders klären zu können, das muss man lernen, seinen Mann anders zu stehen in solchen Situationen.“
„Wir lernen ja hier, eine innere Stopp-Karte aufzubauen. Wenn wir also merken, dass wir langsam aus der Fassung geraten, so eine innere Stopp-Karte sich selbst zu setzen. Wenn man merkt, dass man kurz vor dem Gewaltausbruch ist.“
Männlichkeitsbilder hinterfragen und Streitigkeiten aushalten, ohne zuzuschlagen; rechtzeitig spüren, wenn die Wut hochkocht und mit sich selbst auch dann im Reinen sein, wenn man mal nachgeben musste. In vielen Gruppensitzungen und Einzelgesprächen sollen die Gefangenen das Rüstzeug für ein gewaltfreies Leben an die Hand bekommen. Alle jungen Männer in dieser Runde sind dazu motiviert. Auch die Rechtsextremisten unter ihnen. Markus zum Beispiel sieht gar keine Verbindung zwischen seiner Gesinnung und seiner Tat. Er sei einfach zu gewesen, betrunken.
„Na, ich weiß nicht. Ich bin auf jeden Fall auch rechtsorientiert, aber meine Straftaten, die haben damit nichts zu tun. Ich war immer übelst zu und habe die dann, habe Leute geschlagen.“
ünter, sein Nachbar in dieser Runde, bekennt sich ganz offen zu den JN, den jungen Nationaldemokraten, der Jugendorganisation der NPD – und erntet Widerspruch.
Günter: „Ich habe ja zur JN geschrieben, also wegen Mitgliedschaft. Und die haben für die Jugend zum Beispiel Freizeitmöglichkeiten, haben die halt ermöglicht. Die machen etwas für die Jugend, denke ich.“
Jens: „So etwas verurteile ich. Ich hasse Nazis.“
Günter: „Ich bin mein ganzes Leben damit aufgewachsen. Also, mitzuwirken für ein neues Zeitalter.“
Jürgen: „Denkst du genau, das der Typ von der NPD, das der auf dich guckt, wie es dir geht und so?“
Günter: „Aber, ich könnte doch austreten. Ich bin ja da nicht gebunden, irgendwie.“
Ob es einem Gefangenen aber gelingen kann, noch während des Knastaufenthaltes aus der Neonazi-Szene auszusteigen, hängt nach Ansicht von Bernd Wagner entscheidend davon ab, wie groß der Einfluss rechter Kameraden in dem jeweiligen Gefängnis ist. Wagner leitet die deutschlandweit aktive Aussteigerinitiative „Exit“. Seiner Erfahrung nach haben sich in einigen deutschen Strafanstalten klare rechtsextreme Gruppenstrukturen etabliert.
„Das gibt sogar Gefängnisaufenthalte, wo Ehemalige berichten, dass dort regelrechte Schulungen durchgeführt wurden. Also die haben Dröhnungen gekriegt in Sachen Antisemitismus, die haben Dröhnungen in Geschichtsbildarbeit bekommen, sie haben Dröhnungen in Sachen allgemeinen Rassismus erhalten. Also das baut schon gewissermaßen Einstellungsmuster auf.“
Ein Häftling, der auf solche Strukturen trifft, sollte es vermeiden, seinen Ausstiegswunsch den Kameraden im Gefängnis gegenüber auszuplaudern, rät der ehemalige Neonazi Sascha. Der Mittzwanziger, der in Wirklichkeit anders heißt, verließ die rechtsextreme Szene vor gut einem Jahr und hat vor Kurzem begonnen, in der Öffentlichkeit über seine Insidererfahrungen zu reden. Mit der Folge, dass er seitdem von Mitgliedern der sogenannten Freien Kräfte bedroht wird. Der Aussteiger soll zum Schweigen gebracht werden. Um ihn zu schützen, hat die Redaktion entschieden, Saschas Worte von einem Schauspieler nachsprechen zu lassen.
„Wenn jemand im Knast aussteigt – und das ist eine Frage der Zeit, dass das rauskommt – wird er unter massiven Druck gesetzt. Teilweise wird er bedroht, weil Ausstieg ist gleich Verrat. Er kann jetzt nicht zu seinen Kameraden im Knast gehen und sagen: Passt mal auf Jungs, ich habe keinen Bock mehr, ich gehe jetzt nach Hause, leckt mich alle am Arsch! Denn dann ist es eine Frage der Zeit, bis sie versucht haben, ihm massiv Schaden am Leib und Seele zuzuführen.“
Wie der Besuch beim Antigewalttraining in der Strafanstalt gezeigt hat, sind junge Häftlinge häufig sehr motiviert, sich zu ändern. Alle Teilnehmer des Trainings wünschten sich, ihr Leben in Freiheit künftig ohne Straftaten zu führen. Das heißt, ein Jugendgefängnis ist für die Sozialarbeit ein wichtiger Ort, um Einfluss auf die jungen Gewalttäter zu gewinnen. Das gilt aber auch für die rechtsextreme Szene: Günter bezeugt in der Gesprächsrunde, dass seine Kameraden ihn auch im Knast betreuen.
Günter: „Na ja, helfen, ich sage einmal mit Geld und so. Die schreiben mir ja. Und Briefmarken stecken sie auch rein.“
Jens: „Wie wirst du jetzt unterstützt? Du bekommst Briefmarken geschickt?“
Günter: „Briefmarken, Geld bekomme ich.“
Jens: „Geld, was bekommst du denn für Geld? 50 Euro im Jahr, was geschickt bekommen da.“
Günter: „Telly oder so etwas, zum Anrufen. Dann halt so noch das Eigengeld, dass ich sparen kann dafür.“
Jens: „Wenn ich zur Mafia will, zur Cosa Nostra, die unterstützen mich genauso!“
Zwar hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich 2011 die rechtsextremistische „HNG“, die „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V.“ verboten – die hatte bundesweit verurteilte Neonazis im Gefängnis betreut. Trotzdem unterstütze die Bewegung ihre Anhänger in den Justizvollzugsanstalten auch heute noch, versichert „Exit“-Chef Bernd Wagner.
„Die werden regelrecht dort „bemuttert“, wenn man so will, in Anführungszeichen. Das soll ja so sein, dass die genau in so einer Ausnahmesituation Hilfe bekommen. Das heißt also, wer hilft mir in einer schwierigen Lage? Die Kameraden. Und nicht der Schullehrer oder meine Mutti, sondern hier sind meine Kameraden am Start. Und das baut die auf.“
Aussteiger Sascha zufolge gehen die Rechtsextremisten seit dem „HNG“-Verbot sehr geschickt vor, wenn sie ihre Kameraden im Knast unterstützen: In Briefen benutzen sie Code-Wörter, die nicht eindeutig der Szene zuzuordnen sind; sie verhalten sich bei Besuchen in den Anstalten höflich zurückhaltend und offenbaren ihre Ideologie bei Kontakten ins Gefängnis eher indirekt.
„So versucht man eben halt, den Kameraden im Knast ein gewisses Gefühl von Geborgenheit und von Schutz zu vermitteln. Aber das macht man nicht aus reiner Menschlichkeit und Solidarität. Das macht man, weil der jeweilige Gefangene möglichst bei Stange bleiben soll. Der soll ja auch nicht auf den Gedanken kommen: Ich hab jetzt Scheiße gemacht, deswegen sitze ich im Knast, vielleicht sollte ich mein Leben überdenken und vielleicht eventuell von diesem Weltbild Abstand gewinnen.“
Dennoch gibt es im Gefängnis für die Sozialarbeiter Chancen, auf die Häftlinge einzuwirken. Davon ist Dierk Borstel überzeugt. Er ist Professor für praxisorientierte Politikwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund, hat lange als Betreuer für rechte Aussteiger gearbeitet und bildet heute unter anderem Justizvollzugsbeamte fort. Leider hätten die Beamten in den Gefängnissen heute viel zu selten Zeit, sich pädagogisch um die Häftlinge zu kümmern, bedauert Dierk Borstel. Es fehle überall an Personal.
„Das heißt, diejenigen, die noch unmittelbar Kontakt haben mit den Inhaftierten, klagen darüber, dass es eigentlich nur noch darum geht, Ruhe einziehen zu lassen. Dass selbst einfachste Gespräche kaum noch möglich sind. Und eine Auseinandersetzung ohne Gespräche ist nicht machbar. Das heißt, viele Justizvollzugsanstalten können ihr Ziel der Resozialisierung aufgrund der strukturellen Defizite gar nicht erreichen. Und dann müssen wir mit Deradikalisierung gar nicht anfangen.“
Zur Deradikalisierungsarbeit in Strafanstalten gehört nach Ansicht von Dierk Borstel vor allem die Fähigkeit, sich auf jeden einzelnen Häftling persönlich einstellen zu können. Denn nicht jeder rechtsextreme Gefangene sei gleich. So müsse man beispielsweise einen jugendlichen Mitläufer ganz anders ansprechen als einen ideologisch verfestigten Gefangenen.
„Mit dem einen müssen Sie ideologisch streiten, dem anderen müssen Sie eine Alternative anbieten. Wichtig ist bei alldem: Sie müssen sie ernst nehmen. Und Sie müssen sauber und gerade sein in der eigenen Positionierung. Wenn Sie das nicht sind und wenn Sie Angst haben, haben Sie auch keine Chance.“
Ein besonders effektives Instrument, um einen Häftling für einen Ausstieg zu gewinnen, ist nach Erkenntnis des Wissenschaftlers das Aussäen und Verstärken von Zweifeln. Ein bewährter Ansatzpunkt für den Zweifel sei der Unterschied zwischen dem, was die Szene predigt und dem, was sie lebt. Mit diesen Widersprüchen begann auch Saschas Ausstieg.
„Nach etlichen Jahren hab ich halt mitbekommen, dass diese Grundwerte, die wir im NS-Widerstand immer versucht haben, zu leben, das heißt, Arbeitsehre, Opferbereitschaft, Treue, Stolz, Stärke – ohne Disziplin gibt es diese Werte halt nicht. Ich hab halt mitbekommen nach x Jahren, dass diese Werte eigentlich nur nach außen hin eine Bedeutung haben. Weil im Großen und Ganzen haben wir uns eigentlich immer selber belogen.“
Als die ersten Berichte über die Morde der NSU-Terrorzelle veröffentlicht wurden, erlebte Sascha, wie die sogenannten nationalen Sozialisten in seinem damaligen Bekanntenkreis von noch mehr Toten träumten.
„Wenn es nach den „Freien Kräften“ ginge, würden hinter den zehn Toten noch wesentlich mehr Nullen dranstehen. Diese grenzenlose Gewaltbereitschaft, das hat mich einfach mit der Zeit ziemlich, ja, fertiggemacht. Irgendwelche Leute zu hassen, ständig irgendwelche Leute bekämpfen zu wollen, und das auf Dauer, das macht einen einfach kaputt.“
Außerdem gab es da noch die Anweisung der „Bewegung“ an ihre Anhänger, jeden Andersdenkenden als Feind zu betrachten, selbst die eigenen Eltern. Eine derart unerbittliche Einstellung konnte Sascha mit seinem Gewissen aber nicht vereinbaren.
„Ich wäre niemals bereit gewesen, meine eigenen Eltern gnadenlos für die Bewegung über die Klinge springen zu lassen. Und das war denn für mich auch noch mal, dass ich begriffen habe, wie dumm ich eigentlich war, jahrelang so einer Scheiße hinterher zu rennen.“
Wer aus der rechten Szene aussteigt, hat damit keinesfalls seine Probleme hinter sich gelassen. Denn er ist ja für die „Bewegung“ ein Verräter. Ein Feind, der unter Umständen bestraft werden muss. Deswegen raten Sozialarbeiter, den Ausstieg sorgfältig vorzubereiten. Sonst könne es schnell gefährlich werden, weiß Bernd Wagner von „Exit“.
„Dann stehen faktisch Kameraden vor der Tür oder verfolgen die Leute schon. Und in dieser Not rufen die dann an. Also wir haben auch Fälle erlebt, wo dann Eltern angegangen wurden und Geschwister von Entsprechenden. Oder auch versucht wurde, an Kinder ranzukommen. Also das muss man vorher genau besprechen, wie man sich aus der Schusslinie zieht. Also dass nicht sofort die Rache auf dem Fuße folgt, also, das kann schon manchmal sehr unangenehm werden.“
Ein bedrohter Aussteiger hat zwei Möglichkeiten: Er kann die Polizei anrufen und muss darauf vertrauen, dass diese ihm auch wirklich Hilfe anbietet – oder er nimmt zu Sozialarbeitern Kontakt auf, die in Aussteigerprojekten arbeiten. Zu Menschen wie Michael Ankele zum Beispiel. Der Sozialpädagoge aus Sachsen weiß: Selbst wenn ein Aussteiger nicht von seinen Ex-Kameraden bedroht wird, geht es ihm selten gut. Neonazis, die in der rechtsextremistischen Straßenszene aktiv waren, haben häufig mit Alkoholproblemen, Arbeitslosigkeit oder Geldsorgen zu kämpfen. Viele müssen sich mit drohenden Strafverfahren auseinandersetzen. Aber auch Aussteiger, die nicht straffällig geworden sind, haben Michael Ankele zufolge Schwierigkeiten, mit denen sie alleine nicht fertig werden.
„Keiner steigt aus ohne Leidensdruck. Und das sollte man auch immer wieder sagen: Wenn diese Klienten in so ein Projekt gehen, dann sind sie unter so einem Höllendruck, da gibt es keine Alternative mehr. Politische Aussteiger – ganz subtile Kiste. Also dort sind auch in der Regel kaum Straftaten, aber die haben psychische Probleme: Unglaublich isoliert, was Sozialkontakte anbetrifft, Weil sehr elitäre politisch-fanatische Szenen sind ausgesprochene Psychokisten auch, ich hab zunehmend psychische Probleme zu klären.“
Michael Ankele sagt, es sei bei seiner Arbeit besonders wichtig, eine Vertrauensebene zum Klienten herzustellen. Seine Erfahrung: Fast alle Aussteiger haben über Jahre hinweg ausschließlich mit Menschen aus der „Bewegung“ kommuniziert. Plötzlich haben sie niemanden mehr, mit dem sie reden können. Schon gar nicht über politische und moralische Fragen. Sie brauchen aber unbedingt jemanden an ihrer Seite, der weiß, wie die rechte Szene tickt. Der mit der Ideologie vertraut ist, ohne sie zu teilen. Kein Mensch könne sich aus seiner Ideologie lösen, ohne darüber Gespräche zu führen, so Michael Ankele.
„Was mich immer ein bisschen betroffen macht, dass man eigentlich diesen Ausstieg bei vielen Behörden, das wird gar nicht wertgeschätzt. Im Gegenteil: Man sieht da so einen Nazi, aha, und jetzt versucht er irgendwie unter eine warme Bettdecke zu huschen. Eine ganz dumme Einstellung. Weil, wer diesen Ausstieg wagt, der sollte bedingungslos unterstützt werden. Das ist nicht nur Zivilcourage, das ist auch Humanismus. Es ist extrem wichtig, dass ein Aussteiger spürt, dass die bürgerliche Gesellschaft ihn aufnimmt.“
Auch Aussteiger Sascha hat so einen Sozialarbeiter an seiner Seite. Mit ihm sei es leichter, die Schuldgefühle zu ertragen, gesteht der einstige Neonazi.
„Das ist auch Angst, ganz viel Angst ist dabei. Man fühlt sich wie auf einem Nagelbrett, man liegt auf einem Brett mit einem Haufen Nägeln. Und auf dir liegt ein Gewicht. Und das Gewicht drückt dich rein in dieses Nagelbrett und überall tust du dir weh, dass tut schmerzen, unheimlich schmerzen. Da wird dir auch bewusst, wie viel Leid du Menschen angetan hast, was du jahrelang für einen Mist gemacht hast. Und diese Nägel stechen in deine Seele rein, in deinen Körper rein, was versucht hat, dich kaputtzumachen. Und dann hast du aber halt diesen Ausstiegsgedanken, weil du halt hoffst indirekt, dass du vielleicht eventuell dir die Chance erarbeiten kannst, einen Platz in dieser Gesellschaft zu bekommen.“
Aussteiger- und Deradikalisierungsarbeit findet in Deutschland fast ausschließlich in Form von Projektarbeit statt. Dabei ist jedes Projekt zeitlich begrenzt und wird von vornherein nur befristet finanziert. Die Aussteiger-Organisation Exit zum Beispiel stand deswegen mehrfach vor dem Aus und hat erst seit Kurzem die Zusage der Bundesregierung auf eine längerfristige Förderung erhalten. Das Projekt „Violence Prevention Network“, das Antigewalt-Programme in den Gefängnissen durchführt, befürchtet, sich ab 2014 aus den Strafanstalten zurückziehen zu müssen, da die Finanzierung durch Sonderprogramme des Bundes ausläuft. Von einem Wegfall dieser Mittel wäre auch die Arbeit vieler Sozialarbeiter betroffen, die, ähnlich wie Michael Ankele, Häftlinge nach ihrer Entlassung betreuen. Wer aus der rechtsextremen Szene aussteigt, habe leider keine Lobby, bedauert der Sozialwissenschaftler Dierk Borstel von der Fachhochschule Dortmund. Gerade deswegen bräuchten Aussteiger- und Deradikalisierungsprojekte, die sich bewährt haben, für ihre Arbeit eine gesicherte Perspektive.
„Nehmen Sie einen Aussteiger. Und wenn Sie den beraten, geben Sie dem ein Versprechen. Und zwar das Versprechen, dass Sie auch im nächsten und im übernächsten Jahr noch da sind, weil beides sind Prozesse. Eigentlich können Sie das rein professionell nicht tun, wenn Sie Jahresverträge haben. Und das ist fachlich, das ist gesellschaftlich eigentlich eine Katastrophe, das ist ein Unding. Das kann man nicht mit halben Stellen machen, das kann man auch nicht auf Zweijahresverträgen machen. Das heißt, wir müssen aus diesem Projektezirkus heraus. Und wir müssen hin zu einer kontinuierlichen langfristigen, aber immer wieder der Lage angemessenen Arbeit gegen Rechtsextremismus kommen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe.“
Nachdem im Frühjahr rechtsextreme Netzwerke in einem hessischen Gefängnis aufgedeckt wurden, hat die Bundesjustizministerkonferenz auf ihrer Sitzung im Juni beschlossen, den zuständigen Behörden in Bund und Ländern zu empfehlen, sich für eine dauerhafte Finanzierung von Deradikalisierungs-Projekten einzusetzen. Exit-Chef Bernd Wagner ist trotzdem skeptisch.
„Es gibt keine Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Sachen Rechtsextremismus. Jeder ist sich selbst der Nächste, alle machen mit und keiner weiß Bescheid. Das ist nicht angenehm, das sagen zu müssen, aber es gibt keine zentralen Lehren aus dem NSU-Fall. Es hat sich nichts getan auf der Ebene der Lagebewertung des Rechtsextremismus, schon gar nicht, was die Interventionsmuster betrifft. Ich glaube, das ist der falsche Weg, dass man Projekte als Teilzeitinstrumente gegen einen recht massiven Gegner der Demokratie in Anschlag bringt, das ist zu kurz gedacht.“
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/gefangen-im-rechten-netzwerk.724.de.html?dram:article_id=252135